Der Nexperia Wirtschafts- und Politkrimi
Werk in Hamburg-Lokstedt könnte Industrie weltweit lahmlegen
Mehr Absprache und bessere Kooperationen erforderlich

24. November 2025

In den vergangenen Wochen brachten die Auseinandersetzungen um Nexperia weltweit die industriellen Lieferketten aus dem Lot. Eine undurchsichtige interne Auseinandersetzung eines einzigen, noch nicht einmal sehr bekannten Unternehmens könnte ein Großteil der industriellen Produktion lahmlegen.

Nexperia-Übernahme durch Wingtech

Nur am Rande war die Rede vom Hamburger Nexperia-Werk. Ursprünglich wurde das Unternehmen auch hier als Valvo Radioröhrenfabrik im Jahr 1924 gegründet. Das Hamburger Werk gilt als weltgrößte Fabrik für Kleinsignal-Dioden und -Transistoren. 2019 wurde Nexperia, das weltweit etwa 14.000 Menschen beschäftigt, vom chinesischen Unternehmen Wingtech übernommen. Noch 2024 wurde angekündigt, dass in Hamburg 184 Millionen Euro in den Ausbau der Produktion investiert werden.

100 Milliarden Halbleiter aus Hamburg-Lokstedt

100 Milliarden Halbleiter verlassen jedes Jahr die Waferfabrik in Hamburg-Lokstedt. Diese Halbleiter bewegen die ganze Welt: Als elektronische Schalter stecken sie in Kopfhörern, Handys, Autos und zahlreichen weiteren elektronischen Geräten. Sie ermöglichen den Betrieb komplexer Chips und verbessern die Leistung alltäglicher Produkte wie z. B. die Reichweite von E-Autos. E-Mobilität, Energiewende, Digitalisierung ist ohne die Technologie von Nexperia nicht umsetzbar. In Deutschland setzen mehr als 1.600 Mitarbeitende Maßstäbe für neue Technologien. Der Hauptsitz befindet sich in den Niederlanden.

Holländisches Gericht enteignet Nexperia-Eigentümer

Doch mit der Ruhe ist es vorbei. Unvorbereitet traf jedoch eine Gerichtsentscheidung die globale Industrie. Ein holländisches Gericht ordnete im Oktober die Abberufung des früheren Nexperia-CEO und Wingtech-Gründers Zhang Xuezheng wegen Missmanagements an. Wingtech wurde 2006 von Zhang Xuezheng, einem ehemaligen Ingenieur von STMicroelectronics , als Original Design Manufacturer (ODM) gegründet. Nexperia befindet sich im Teilbesitz des Gründers und mehrerer staatseigener chinesischer Unternehmen.

Im Oktober 2025 übernahm das niederländische Wirtschaftsministerium die Kontrolle über Nexperia auf Grundlage des Warenverfügbarkeitsgesetzes und begründete dies mit einer Gefährdung der nationalen und europäischen Wirtschaftssicherheit. Mehrheitsaktionär Zhang und seine Tochtergesellschaft Wentianxia Technology Group Co., Ltd. sollen ihre Anteile an Wuxi Guolian Development (Group) Co., Ltd. übertragen. Nach Abschluss der Transaktion würde die tatsächliche Kontrolle über Wingtech Technology von Zhang auf die Wuxi Municipal State-owned Assets Supervision and Administration Commission übergehen.

Konzeptlose Verstaatlichung

Grundlage für die Verstaatlichung ist das niederländische „Gesetz über die Verfügbarkeit von Gütern“ (Goods Availability Act) von 1952. Die niederländische Regierung ordnete auf dieser Grundlage die Übernahme der Kontrolle über den chinesisch geführten Halbleiterhersteller an, um eine Bedrohung für europäische Technologie und die Versorgungssicherheit abzuwehren, so die Begründung.

In Folge geschah genau das Gegenteil. Nicht nur die Lieferketten für Halbleiter, sondern ganze Industrieketten drohten zusammenzubrechen. Das Vorgehen der holländischen Regierung erinnerte stark an die Politik des amerikanischen Präsidenten: mit krassen, unabgestimmten Entscheidungen für große Unruhe zu sorgen und dann abzuwarten, was passiert. Absprachen auf Augenhöre mit den beteiligten Parteien sind in diesem Politikkonzept nicht vorgesehen.

Was ist die Position von Nexperia?

Zu den aktuellen Turbulenzen nahm Nexperia BV auf seiner Homepage wiederholt Stellung und möchte seine verunsicherten Kunden beschwichtigen. „Wir möchten klarstellen, dass Nexperia die Auslieferung von Wafern nicht vollständig eingestellt hat. Wir sind weiterhin bestrebt, Wafer in die Lieferkette einzuspeisen und bieten alternative Lieferkettenlösungen an, um Unterbrechungen zu minimieren und die Lieferkontinuität so weit wie möglich aufrechtzuerhalten. Dies umfasst beispielsweise den Direktverkauf und -versand von Wafern an Nexperia-Kunden. Engagierte Teams arbeiten kontinuierlich daran, praktikable Lösungswege zu finden und umzusetzen. Wir werden diese Übergangslösungen so lange wie nötig aufrechterhalten, bis eine reibungslose Lieferkette wiederhergestellt ist. Alle anderen Nexperia-Standorte – darunter die in Europa und anderen Teilen Asiens – arbeiten weiterhin normal. Parallel dazu arbeiten wir mit höchster Priorität daran, die Kapazitäten an unseren anderen Standorten zu erweitern. Wir gehen davon aus, dies schrittweise im Laufe des Jahres 2026 zu erreichen,“ so Nexperia in einer Mitteilung vom 19. November.

Auseinandersetzungen um Macht, Einfluss und Geld

Was zunächst wie ein undurchsichtiger Wirtschafts- und Politkrimi aussieht, hat mehrere Ebenen. Zunächst sind dies unternehmensinterne Auseinandersetzungen um Macht, Einfluss und Geld. Auf der einen Seite steht der dynamische Unternehmensgründer, der sicherlich ganz andere Mentalität hat als die angestellten Manager. Zwei Welten in einem Unternehmen bereiteten auch schon in der Vergangenheit vielen Akquisitionen oder Joint Ventures erhebliche Probleme. In einem Bett liegen, aber verschiedene Träume haben bildete sich dafür als bildhafter Spruch heraus.

Politik beschädigte Lieferketten

Nun sollte im Fall von Nexperia die Politik zu Hilfe gerufen werden, was jedoch nicht nur Nexperia, sondern die gesamte industrielle Lieferkette aus dem Lot brachte. „Die aktuelle Situation ist ausschließlich durch politisches Handeln mit direkter Wirkung auf Unternehmensebene ausgelöst worden“, erklärt Klaus Schmitz, Partner bei der Unternehmensberatung Arthur D. Little in der Zeitschrift „Automobilproduktion“. Fatal sei, wenn Unternehmen sich in geopolitischen Spannungsfeldern bewegten, während Regierungen gegensätzliche Strategien verfolgten.

Die Folge sei eine Unsicherheit, die sich bis tief in die Lieferketten hinein fortsetze. Schmitz betont, dass Substitutionen durch alternative Hersteller nur begrenzt möglich seien. Hauptgrund dafür sei die aufwendige Qualifizierung nach automobilen Normen und internen Standards. Zwar hätten viele Hersteller nach der Chipkrise 2022 und 2023 begonnen, auch einfachere Halbleiter in ihr Risikomanagement einzubeziehen und den Anteil an Dual Sourcing zu erhöhen, doch dies sei noch längst nicht flächendeckend umgesetzt. Selbst wenn alternative Lieferanten zur Verfügung stünden, dauere die Umstellung aufgrund der komplexen Strukturen der Lieferketten eher Monate als wenige Tage.

Nach Einschätzung des Beraters handelt es sich bei der Nexperia-Krise bereits um die dritte Chipkrise innerhalb von anderthalb Jahrzehnten – nach den Engpässen infolge der Fukushima-Katastrophe 2011 und den pandemiebedingten Lieferausfällen 2021 bis 2023. Anders als damals seien die Ursachen heute jedoch nicht natur- oder nachfragebedingt, sondern geopolitischer Natur.

China kritisiert Beschädigung der Lieferketten

China hat die Niederlande am 20. November aufgefordert, schnell und wirksam eine baldige Lösung der Frage im Zusammenhang mit dem Halbleiterhersteller Nexperia anzustreben sowie zur Wiederherstellung der Sicherheit und Stabilität der globalen Halbleiterproduktion und -Lieferketten beizutragen, so die Sprecherin des chinesischen Handelsministeriums, He Yongqian.

Die Ursache und Verantwortung für die derzeitigen Störungen in der globalen Halbleiterlieferkette lägen auf niederländischer Seite, so He weiter. China begrüße daher die Entscheidung der niederländischen Regierung, ihre Verwaltungsanordnung in Bezug auf Nexperia auszusetzen.

Dies sei lediglich ein erster Schritt in die richtige Richtung einer angemessenen Lösung des Problems. Allerdings sei es noch ein langer Weg, bis das Problem vollständig gelöst sei, und China hoffe, dass die niederländische Seite weiterhin Aufrichtigkeit in der Zusammenarbeit zeige und konkrete Maßnahmen zur Lösung des Problems ergreife.

Wingtech fordert rechts- und faktenbasierte Entscheidungen

Am 23. November veröffentlichte Wingtech Technology eine Erklärung, in der sie von Nexperia Niederlande eine konstruktive und aufrichtige Lösung forderte, wie die legitime Kontrolle von Wingtech Technology und die vollen Aktionärsrechte wiederhergestellt werden können, basierend auf einem echten Respekt vor den Fakten und dem Gesetz.

Wingtech Technology erklärte, dass das Unternehmen nach der unzulässigen Einmischung des niederländischen Wirtschaftsministeriums – in verantwortungsvoller Weise und mit starker Unterstützung der zuständigen chinesischen Regierungsstellen – die Initiative ergriffen habe, guten Willen zu zeigen und seine Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog mit Nexperia Netherlands bekundet habe, um die rechtmäßige Kontrolle von Wingtech Technology wiederherzustellen und die aktuelle Streitigkeit beizulegen. „Wir sind fest davon überzeugt, dass die Beilegung von Differenzen durch einen offenen Dialog der richtige und praktikable Weg ist, den reibungslosen Geschäftsbetrieb des Unternehmens und die Stabilität der globalen Chipversorgung zu gewährleisten.“

In der Erklärung hieß es außerdem: „Die Stabilität der globalen Halbleiterindustrie ist entscheidend für die Gesamtentwicklung der Branche. Wir rufen alle Beteiligten erneut dazu auf, rational und verantwortungsbewusst zu handeln, gemeinsam die Stabilität und den Wohlstand von Nexperia zu sichern und die Sicherheit der globalen Lieferkette unserer Kunden zu gewährleisten.“

Grundsätzliche Regelungen und funktionierende Chipproduktion erforderlich

Auf die grundsätzlichen Problemen der europäischen Industrie- und Technologiepolitik kann hier nur kurz eingegangen werde. Chips – ein Lehrstück für europäische Versäumnisse und Fehlentscheidungen, so Chinakenner Wolfgang Hirn. Viele Jahre vergehen, ohne das die europäische Politik Ergebnisse aufweisen kann. Im Mai 2013 stellte die damalige Kommissions-Vizepräsidentin Neelie Kroes, eine Niederländerin, eine neue europäische Industriestrategie für die Elektronik vor. Mit 100 Milliarden Euro privatem und öffentlichem Geld – sollte der europäische Weltproduktions-Anteil bei Chips von damals 10 auf 20 Prozent im Jahr 2020 gesteigert werden.

Die Analyse von Neelie Kroes war damals so richtig wie heute: „Andere investieren aggressiv in Computerchips, und Europa darf nicht zurückbleiben Wir müssen unsere bestehenden Stärken stärken, vernetzen und neue Stärken entwickeln.“ Kroes schwebte die Bildung eines Airbus of Chips“ vor. Analog zu dem europäischen Konsortium aus vier Luftfahrtunternehmen, die den Airbus bauen, sollte ein Zusammenschluss von Firmen und Instituten einen europäischen Chip produzieren. In Frage für ein solches Chipkonsortium kämen die drei führenden europäischen Chipfirmen STMicroelectronics (Frankreich/Italien), Infineon (Deutschland) und NXP (Niederlande), plus ASML sowie die Forschungsinstitute imec (Belgien), Fraunhofer (Deutschland) und Leti (Frankreich). Eine European Leaders Group (ELG) wurde eingesetzt mit den Chefs aller eben genannten Firmen und Institutionen. Sie lieferte im Februar 2014 eine 24-seitige Strategic Roadmap ab.

Doch die Roadmap führte ins Nirwana oder – freundlicher ausgedrückt – in eine Sackgassee. Es passierte danach nicht viel. Weder hob ein „Airbus of Chips“ ab noch wurde der europäische Marktanteil bis 2020 gesteigert. Europa steht also auch 2024 genau da, wo es auch 2013 gestanden hat: bei gerade mal zehn Prozent Marktanteil bei Chips.

In diesem Jahrzehnt des Nichtstuns hat sich sogar einer der möglichen Konsortiums Partner, der niederländische Chiphersteller NXP, erlaubt, seine Tochter Nexperia 2018 an ein chinesisches Unternehmen zu verkaufen. Und eben diese Nexperia ist derzeit zwischen die Fronten des amerikanisch-chinesischen Technologie-Krieges geraten und lieferte vorübergehend nicht mehr. Es stellen sich Fragen: Warum verkauft man eines der wenigen Chipunternehmen, die man noch hat, an ein chinesisches Unternehmen? Warum hat keiner der (niederländischen) Politiker, die jetzt so lautstark die Abhängigkeit von China beklagen, damals interveniert? Dies fragt Wolfgang Hirn.

Doch auch mit viel Geld dürfte sich wenig ändern. Milliarden an Subventionen sind in groß angekündigte Chip-Produktionshubs, die nie in Betrieb gingen versickert, während in Hamburg-Lokstedt bereits 100 Milliarden Chips produziert wurden.

Deutsche Konzerne entwickeln und produzieren Chips in China

Doch taugt Europa überhaupt für solche Produktionswerke? Volkswagen beispielsweise hat in Deutschland mit seiner Chip- und Softwareprojekten eher Probleme. Daher geschieht dies jetzt in China. Mit dem chinesischen KI-Start-up Horizon Robotics entwickelt Volkswagen einen Chip für autonomes Fahren. Der Schritt markiert den Beginn der zweiten Phase der China-Strategie von VW.

„Durch die Entwicklung und Konstruktion des System-on-Chip hier in China übernehmen wir die Kontrolle über eine Schlüsseltechnologie, die die Zukunft des intelligenten Fahrens bestimmen wird“, sagte Konzernchef Oliver Blume Anfang November in Shanghai. Chinavorstand Ralf Brandstätter sprach von einer Lösung „mit Blick auf chinesische Kunden“, Cariad-Chef Peter Bosch von einem „großen Schritt“ auch für die Softwaretochter, die damit erstmals Hard- und Software integriert entwickelt.

Sicherung von Lieferketten sowie bessere Entwicklungs- und Produktionsbedingungen in China sind die Gründe für diesen Schritt von VW. Ähnliche Beweggründe haben alle großen Industriekonzerne, auch Wingtech. Doch können dafür Strategien entwickelt werden, die beiden nutzen, sowohl Vorteile für Europa, als auch für China schaffen. Doch den Staat zu Hilfe rufen und Unternehmen zu verstaatlichen zeugt eher von kurzfristigen denken oder von Machtspielen einzelner Manager. Und eine Regierung, die dies schnell und ohne viel Vorlauf umsetzt, mangelt es an industriepolitischer Kompetenz und Weitblick.

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Nexperia

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Foto: Nexperia

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