Traditioneller Außenhandel
vor dem Ende?

12. Juni 2024

Schwellenländer holen auf / produziert wird zunehmend vor Ort / von Thomas Kiefer 

Der deutsche Außenhandel kommt nicht zur Ruhe. Lieferengpässe durch kriegerische Auseinandersetzungen, Lieferketten-Dokumentation und neue bürokratische Vorgaben oder Probleme bei der internationalen Beschaffung sind nur Teile des Problems. Die deutsche Außenwirtschaft sieht sich mit einer Welt konfrontiert, in der der Stellenwert Deutschlands abnimmt, da vor allem asiatische und lateinamerikanische Staaten aufholen. Diese sind oft mehr noch als neue Ansatzmärkte, als neue Konkurrenten zu sehen. Doch die Wirtschaftsverbände sehen viele Probleme als hausgemacht an, die es durch eine bessere, ergebnisorientierte Wirtschaftspolitik zu lösen gilt.

Die deutsche Wirtschaft rutscht dem Ifo-Institut zufolge im laufenden Winterquartal in eine Rezession ab. Das Bruttoinlandsprodukt werde von Januar bis März voraussichtlich um 0,2 Prozent zum vorangegangenen Vierteljahr zurückgehen, wie die Wirtschaftsforscher schätzen. Ende 2023 war Europas größte Volkswirtschaft nach ersten Schätzungen des Statistischen Bundesamtes bereits um 0,3 Prozent geschrumpft. "Damit würde die deutsche Wirtschaft in der Rezession stecken", sagt IFO-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser.

Die Wirtschaftsprobleme sind strukturell tief verwurzelt. Das zeigt sich deutlich im Außenhandel. Insbesondere Technologieexporte gehen zurück und Produkte der Landwirtschaft und Leichtindustrie verzeichnen Zuwächse. Die Exporterwartungen der Unternehmen sanken im Januar 2024 auf minus 8,4 Punkte, nach minus 7,1 Punkten im Dezember, wie das Münchner Ifo-Institut mitteilte. "Die Exporteure brauchen neue Impulse", so Ifo-Forscher Klaus Wohlrabe.

Überregulierung behindert Handel

Gut gemeint, aber schlecht gemacht. So die Stellungnahme des Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA) und sieben weiterer Wirtschaftsorganisationen zum Entwurf des Lieferkettengesetzes. Die geplante EU-Lieferkettenrichtlinie würde insbesondere den Mittelstand in der Praxis überfordern und zu einem Rückzug europäischer Firmen aus vielen Ländern führen.

Der BGA setzt in einem weiteren Schreiben zusammen mit europäischen Spitzenverbänden auf einen raschen Ausbau des Freihandels. Sie fordern erneut einen raschen Abschluss der Verhandlungen über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur. Nicht nur expandierende Absatzmärkte locken. Darüber hinaus hat das Abkommen entscheidende Bedeutung, um den Zugang der EU zu Rohstoffen zu sichern, die für den grünen und digitalen Wandel unerlässlich sind. Dazu kommt, dass der globale Wettlauf um freie Marktzugänge in vollem Gange ist. "Kurzum, wir haben keine Zeit zu verlieren", so die Spitzenverbände.

Auf einer Pressekonferenz Großhandel im Januar mahnte BGA-Präsident Dr. Dirk Jandura, dass die Situation im deutschen Großhandel auf einem der schlechtesten Werte der letzten 25 Jahre sei. Andere Volkswirtschaften hätten sich bereits erholt, aber Deutschland stecke nach wie vor in einer konjunkturellen Sackgasse. Nach einem erwarteten Wachstum von +0,3 Prozent werde es nun für 2023 wohl ein Minus von 0,3 Prozent werden. Für 2024 erwarte der BGA angesichts des komplexen Umfelds ohne politisches Umsteuern eine Rezession, bestenfalls eine Stagnation bei +/- 0,1 Prozent. Aus einer noch zu Jahresbeginn positiven, wenn auch verhaltenen, Wachstumsprognose habe sich eine Rezession verfestigt, deren Ende noch nicht absehbar sei. Basierend auf der Unternehmerumfrage forderte Jandura die Politik auf, die Wirtschaft und den Großhandel nicht mit bürokratischen Hürden zu überhäufen und die Rahmenbedingungen in Deutschland zu verbessern.

Weiter sinkender Außenhandel

Auch einer Ifo-Umfrage zufolge erwartet eine Mehrheit der Branchen, dass ihre Exporte weiter zurückgehen, vor allem der Automobil- und Maschinenbau und die Elektrotechnik. Mit rückläufigen Aufträgen aus dem Ausland haben auch die Hersteller von Kunststoff- und Gummiwaren und die Metallbranche zu kämpfen. Einen Exportzuwachs erwarten laut Ifo die Nahrungsmittelindustrie und Getränkehersteller und auch die Möbelindustrie. Umgekehrt gehen die Exporte von Schuhen, Bekleidung und Möbeln aus China stark zurück. Die Exporte von Hightech steigen, die Einfuhr von Kraftfahrzeugen und Teilen aus China legte im vergangenen Jahr um 36 Prozent zu.

Produktion vor Ort ersetzt Handel

Während die deutsche Wirtschaft leidet, können viele deutsche Konzerne in China noch auf gute Geschäfte und attraktive Gewinne zurückgreifen. Dies zeigt eine wesentliche Veränderung der Weltwirtschaft in den vergangenen Jahren. Einerseits wird immer mehr vor Ort für die Region produziert. Andererseits sind in Asien nicht nur neue Absatzmärkte entstanden, sondern auch integrierte Industrieparks mit exzellenter Infrastruktur. Deutschland hat dagegen ein Infrastruktur-Problem. Das fängt bei langsamen Schienenverbindungen an und geht bis zu einem ungenügenden Ausbau der Mobilfunknetze und des Internets. Lohnkosten spielen dabei weniger eine Rolle.

„Just in Time“ in den Stillstand

Für die Industrie wurde vor einigen Jahren das „Just-in-Time“ Konzept als Kostensenker propagiert. Lagerhaltung sollte möglichst vermieden und von Lieferanten möglichst direkt ans Fließband der Fabriken geliefert werden. Eine verlässliche Logistik-Infrastruktur ist dafür erforderlich. Die Lieferketten sind jedoch sehr anfällig. Dies zeigten die vergangenen Jahre. Wenn aufgrund fehlender Zulieferungen wegen der Sicherheitsprobleme im Roten Meer Fabriken von Tesla oder VW wochenlang stillstehen, entstehen Milliardenschäden. Lagerhaltung lohnt sich daher, da manch fehlendes Teil in solchen Situationen astronomische Preise erzielen können. Auch neue Liefernetze, beispielsweise über eurasische Schienenverbindungen, sind im Entstehen.

China – vom Handelspartner zur Produktionsbasis

„Die dominante Stellung Chinas im Außenhandel mit Deutschland bröckelt“, schreibt die Außenhandelsgesellschaft Germany Trade and Invest (GTAI) in einer Studie. Sowohl die Aus- als auch die Einfuhren aus China verzeichnen starke Einbrüche. China, seit 2016 bedeutendster Handelspartner von Deutschland, könnte seine Spitzenposition dieses Jahr an die USA abgeben.

Der zurückgehende deutsch-chinesische Handel rühre vor allem von der schwächelnden Konjunktur Chinas. „Dazu tragen die Immobilienkrise, geopolitische Risiken im Verhältnis zu den USA und schwächelnde Industrieinvestitionen bei“, so die GTAI. Zudem änderten deutsche Unternehmen ihre Strategie auf dem chinesischen Markt. Zum einen versuchen sie laut GTAI in der Beschaffung auf China zu verzichten. Zum anderen rückten immer mehr Firmen ihren Fokus auf den lokalen Markt, nach dem Motto: „in China für China“. Beides schwäche den deutsch-chinesischen Handel.

USA könnte China als wichtigsten Handelspartner ablösen.

Unter diesen Vorzeichen schrumpfte der Gesamtwert der Ein- und Ausfuhren mit China im vergangenen Jahr um 15 Prozent auf 254 Milliarden Euro, wie aus Hochrechnungen der GTAI hervorgeht. Anders sei das mit der US-Wirtschaft, die sich erstaunlich robust entwickele. Je nach Berechnung lägen die USA als Handelspartner nur noch ein bis zwei Milliarden Euro hinter China zurück. „Sollten sich diese Trends 2024 fortsetzen, lösen die USA China an der Spitze des Rankings der bedeutendsten Außenhandelspartner Deutschlands ab.“ Doch für die USA besteht eine gewisse Unsicherheit über den Ausgang der Präsidentschaftswahlen und in Folge dessen über die amerikanische Außenhandelspolitik. Die EU bleibt mit Abstand Deutschlands wichtigster Handelsraum, auch wenn auch dort das Handelsvolumen insgesamt zurückgeht.

Insgesamt bleibt das Umfeld für deutsche Im- und Exporteure 2024 angespannt. Zu den Kriegen in der Ukraine und in Nahost gesellen sich Übergriffe auf Handelsschiffe im Roten Meer, dadurch steigen Transport- und Frachtkosten. Dies beklagt unter anderem der Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen.

Entwicklung der deutschen Importe aus den bedeutendsten Beschaffungsmärkten 2023

Rang     Land                 2022     Prognose 2023*     Veränderung
1             China               192,8     156,8                        -18,7
2             Niederlande   115,0 1   03,5                          -10,0
3             USA                  93,3       94,6                           1,4
4             Polen               78,3       81,5                            4,0
5             Italien              73,2       71,9                           -1,7
6             Frankreich     70,0       69,5                           -0,6
7             Tschechien    59,2       61,3                              3,6
8            Österreich      58,1        54,5                           -6,2
9            Belgien            63,0       53,4                           -15,3
10          Schweiz           55,7       52,4                           -5,9
        Gesamtimport     1.505     1.365                          -9,4
in Milliarden Euro; Veränderung gegenüber dem Vorjahr in Prozent
* Prognose von Germany Trade & Invest auf Basis der Exportdaten und Wachstumsraten im Zeitraum Januar bis November 2023; Abweichungen durch Rundungen
Quelle: Statistisches Bundesamt 2024; Berechnungen von Germany Trade & Invest

Besonders stark gingen die Importe aus China bei chemischen Erzeugnissen mit einer Abnahme von 70 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurück. Große Rückgänge gab es außerdem bei Einfuhren von Möbeln (-31,3 Prozent) sowie Textilien, Bekleidung und Schuhen (-25,6 Prozent). Hohes Wachstum verbuchten im gleichen Zeitraum Einfuhren von chinesischen Kraftfahrzeugen und -Teilen mit einer Steigerung von 35,6 Prozent, berichtet die gtai. China entwickelt sich vom Exporteur von einfachen Gütern hin zum Hightech-Exporten. Vergangenes Jahr stiegen Chinas weltweite Kraftfahrzeugexporte um 62 Prozent. Das Land überholte damit Japan und ist jetzt Exportweltmeister bei Kraftfahrzeugen. Elektrofahrzeuge und Smart-Cars haben dabei einen hohen Anteil.

Insbesondere in den Schwellenländern, in denen der KFZ-Verkauf noch hohe Zuwachsraten hat, ist China in vielen Staaten mit Abstand Spitzenreiter. Selbst Tesla-Chef Elon Musk lud ausdrücklich chinesische Firmen ein, an seinem geplanten Mexiko-Werk mitzuarbeiten. Auch bei anderen Zukunftstechniken, wie Künstlicher Intelligenz oder Solartechnik hat China eine Spitzenposition. Dies ergibt die eigentliche Gefahr für Deutschlands Exportwirtschaft. China übernimmt Deutschlands Position in den Wachstumsmärkten als Technologie-Lieferant. Und auch große Länder wie Indien oder Brasilien bauen dort ihre Handelsposition aus.

Entwicklung der deutschen Exporte in die bedeutendsten Absatzmärkte 2023

Rang                                 Land                 2022            Prognose 2023*       Veränderung
1                                         USA                 156,2             159,3                             0,8
2                                         Frankreich     118,2             117,8                             -0,3
3                                         Niederlande  112,3              112,9                             0,6
4                                         China              106,8             97,9                             -8,9
5                                         Polen               92,7               89,8                             -3,1
6                                         Italien              89,2               85,9                             -3,7
7                                         Österreich      90,3               80,0                             -11,4
8                                         UK                    73,8               78,2                                6,0
9                                         Schweiz          70,6               67,4                              -4,5
10                                       Belgien            62,9              61,1                                -2,9
                                    Gesamtexport      1.594             1.576                             -1,1 
* Prognose von Germany Trade & Invest auf Basis der Exportdaten und Wachstumsraten im Zeitraum Januar bis November 2023; Abweichungen durch Rundungen
Quelle: Statistisches Bundesamt 2024; Berechnungen von Germany Trade & Invest 

Schwächelnde chinesische Wirtschaft?

In den Medien wird Chinas Wirtschaft überwiegend kritisch gesehen. Immobilienkrise, Überalterung, weltwirtschaftliche Verwerfungen. China hat mit vielen Problemen zu kämpfen. Ökonomen sagen jedoch seit Jahrzehnten dem Land immer wieder ein Ende des Wirtschaftsaufschwungs voraus. Doch angesichts drohender Rezession in Deutschland, China mit immerhin 5 Prozent Wirtschaftswachstum das Ende des Aufschwungs zu prognostizieren, verkennt die Zahlen. Noch im Jahr 2000 betrug das BIP Chinas lediglich 1205 Mrd US-Dollar. 10 Prozent Wachstum waren damals 120 Mrd US-Dollar. 2023 lag das BIP laut Statista bei 17.700 Mrd, US-Dollar. 5 Prozent Wachstum sind dabei 885 Mrd. US-Dollar. Zunächst sind im Vergleich absolute Zahlen und keine Prozentwerte von Bedeutung.

Was bedeutet Exportweltmeister?

Vergleichszahlen bedürften einer Basis. China hat mehr als dreimal so viele Einwohner als die EU. Daher ist die pro-Kopf Wirtschaftsleistung, verglichen mit Deutschland, niedrig und auch der Export pro Einwohner liegt unter dem Wert manch anderer Länder. Der Titel Exportweltmeister ist in erster Linie der Größe des Landes geschuldet. Einige ASEAN-Länder beispielsweise haben pro Kopf ebenfalls stolze Exportzahlen, jedoch durch niedrigerer Einwohnerzahlen insgesamt weniger Außenhandel aufzuweisen. Und auch in den ASEAN-Ländern zeigt sich: Wichtiger als lediglich den Außenhandel auszubauen ist die nachhaltige Entwicklung der eigenen Wirtschaft, einer leistungsfähigen Infrastruktur und eines zukunftsgerichteten Innovationsumfelds. Ohne diese Basis verschwindet die internationale Wettbewerbsfähigkeit.

Deutscher Außenhandelsüberschuss verdoppelt sich

Die Handelsdaten zeigen ein zwiespältiges Bild. Deutschlands Außenhandels sank vergangenes Jahr, der Außenhandelsüberschuß verdoppelte sich jedoch. Die Importe nach Deutschland gingen 2023 um 9,7 Prozent zurück. Die deutschen Exporte sind im Jahr 2023 im Vergleich mit dem Vorjahr um 1,4 Prozent gesunken, so das Statistische Bundesamt. Insgesamt exportierte Deutschland 2023 den Angaben nach Waren im Wert von mehr als 1,56 Billionen Euro. Das Importvolumen umfasste Waren im Wert von mehr als 1,35 Billionen Euro. Demnach schloss die Außenhandelsbilanz 2023 mit einem Exportüberschuss von rund 210 Milliarden Euro ab. Da die Importe deutlich stärker zurückgingen als die Exporte, hat sich der Exportüberschuss gegenüber dem Jahr 2022 mehr als verdoppelt und liegt jetzt bei 209 Milliarden Euro.

Das deutsche Handelsdefizit gegenüber China ist zum ersten Mal seit 2018 geschrumpft und hat dazu beigetragen, den Gesamt-Außenhandelsüberschuss mehr als zu verdoppeln. Das Defizit gegenüber China verringerte sich im vergangenen Jahr auf 58,4 Milliarden Euro, nach einem Höchststand von 86 Milliarden Euro im Jahr 2022. Dennoch ist dies immer noch der zweitstärkste Wert in der Geschichte und ist in erster Linie auf einen Einbruch der chinesischen Importe um mehr als 19 Prozent zurückzuführen, während die Exporte etwa halb so schnell zurückgingen.

Die Zahlen sind differenziert zu interpretieren. Die Struktur der aus China exportierten Waren verbessert sich kontinuierlich und die Exporte von Elektrofahrzeugen, Lithiumbatterien sowie Solarzellen durchbrechen erstmals die Marke einer Billion Yuan RMB und wachsen um fast 30 Prozent, so das chinesischen Handelsministerium. Gleichzeitig gab es massive Preiseinbrüche, bei Solarpanelen beispielsweise von über 40 Prozent. China weitet die Menge der Exporte aus, erschließt neue Märkte insbesondere in den Schwellenländern und kompensiert dadurch die durch einen innerchinesischen Wettbewerb befeuerte Spirale der fallenden Produktpreise.

54 Prozent der deutschen Firmen in China möchten Investitionen erhöhen

In der Wahrnehmung Chinas existieren zwei Welten. In Europa wird insbesondere von der Politik vor einer zu engen Verflechtung mit China gewarnt. Die Deutsche Bundesbank veröffentlichte in ihrem Januar Monatsbericht einen Artikel mit der Überschrift „Risiken für Deutschland aus der wirtschaftlichen Verflechtung mit China“. Die deutsche Wirtschaft vor Ort dagegen kritisiert zwar ebenfalls Geschäftshemmnisse, blickt jedoch überwiegend optimistisch in die Zukunft. In der AHK-Umfrage, an der 566 Mitgliedsfirmen teilnahmen, wird für das laufende Jahr 2024 ein vorsichtiger Optimismus im China-Geschäft konstatiert – im Vergleich zum enttäuschenden Jahr 2023. Nur eine kleine Minderheit überlegt, sich aus China zu verabschieden, 91 Prozent hingegen bleiben. 54 Prozent planen ihre Investitionen zu erhöhen. Grund für die Investitionen: Die Unternehmen wollen in dem zunehmend kompetitiver werdenden Markt wettbewerbsfähig bleiben. Viele sehen China inzwischen als Innovationsmarkt, in dem man einfach vertreten sein muss. Gleichwohl sehen die deutschen Unternehmen auch die Risiken im Markt. Als größtes Risiko betrachten sie mit 53 Prozent mögliche geopolitische Schwankungen.

Mörderischer Wettbewerb führt zu sinkenden Preisen

Mit Subventionen, die jedoch auch westliche Länder gewähren, ist Chinas rascher wirtschaftlicher Aufstieg nicht alleine zu erklären, so Chinaexperte Wolfgang Hirn in seinem Informationsdienst „Chinahirn“. Wichtiger ist eine langfristig und umfassend angelegte Industriepolitik, die sich über die gesamte Lieferketten zieht. Die gesetzlichen Grundlagen zur Förderung nachhaltiger Industriebranchen legte China bereits vor über 40 Jahren. Der gewaltige chinesische Binnenmarkt führt zudem zu einer großen inländischen Nachfrage und viele neue Anbieter sorgen in einem mörderischen Wettbewerb für sinkende Preise und gleichzeitig besserer Qualität. Bei Solarpanels fielen laut Carbon Brief die Preise im vergangenen Jahr um 42 Prozent, bei Batterien um rund 50 Prozent. Und auch bei den E-Autos tobt derzeit ein heftiger Preiskampf.

Entwickeln in China – für die Welt

Von noch größerer Bedeutung für die Wettbewerbsfähigkeit dürfe jedoch die Technologiestärke, insbesondere bei Zukunftstechnologien sein. Die chinesischen Patent-Anmeldungen in den Bereichen Biotechnologie und Kraftfahrzeuge sind in den vergangenen Jahren nach oben geschossen, so das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Insbesondere bei Zukunftstechniken, bei integrierten Umwelttechniken überholt China die bislang führenden Länder.

Im Bereich der Automobilindustrie sind die Folgen deutlich sichtbar. Während viele Autokonzerne und Zulieferer in Deutschland Stellen abbauen, weiten sie ihre Entwicklungskapazitäten in China aus. Nirgendwo in der Welt sind bessere Forschungsmöglichkeiten und mehr Erfahrungswissen als in China zu finden, wo mehr als die Hälfte der Elektroautos fahren und produziert werden. Eine Entkoppelung könnte jedoch für viele der Branche tödlich sein, da nur bei einer Präsenz in den chinesischen Hightech-Zentren der Anschluss an die Entwicklung geschafft werden kann. Und die deutsche Industrie stellt ihre Chinaaktivitäten gerne unter den Titel „In China für China“. Doch geht dies immer mehr in Richtung „In China für die Welt“.

Indien ist bevölkerungsreichstes Land der Erde

Es geht jedoch nicht hauptsächlich um China, sondern um die Welt. Indien ist jetzt bevölkerungsreichstes Land der Erde und zeigt gute Wachstumsraten, ebenso wie die ASEAN-Länder. Lateinamerika ist ebenfalls auf dem Vormarsch, auch wenn Argentinien, einst eines der reichsten Länder der Erde, gewaltige Wirtschaftsprobleme hat. Und auch Afrika muss sich entwickeln, um aus der Armutsfalle durch stark steigende Bevölkerungszahlen heraus zu kommen. Es entstehen neue Märkte, neue Bezugsquellen. Doch sind dort die westlichen Länder nicht mehr unbedingt wichtigste Wirtschafts- und Technologiepartner.

Welthandel wird durch Produktion vor Ort ersetzt

In China werden wahrscheinlich mehr deutsche Produkte verkauft, als chinesische Waren in Deutschland. Die Außenhandelsstatistik zeigt zwar ein gegensätzliches Bild. Doch ist darin nicht der Absatz von tausenden Fabriken deutscher Unternehmen berücksichtig, die dort für den chinesischen Markt produzieren. Umgekehrt sind verhältniswenige wenige chinesische Konzerne mit einer eigenen Produktion in Europa aktiv.

Dies zeigt auch, wieso die Forderung nach Entkopplung von China gleichzeitig mit Milliarden-Investitionen deutscher Konzerne in China ein herläuft: Beides steht nicht im Widerspruch, sondern bedingt sich gegenseitig. Für viele Produkte ist China der weltgrößte Markt. Diesen zu vernachlässigen wurde bedeuten auf Geschäfte und Gewinne zu verzichten.

Das Wirtschaftswachstum fand in den zurückliegenden Jahren überwiegend außerhalb der traditionellen Industriestaaten statt. China sorgte in den 2010er-Jahren für gut ein Drittel des globalen Wachstums. Die übrigen in Asien Schwellenländer Asiens trugen knapp 23 Prozent, die verbleibenden Schwellenländer 20 Prozent zum Weltwirtschaftswachstum bei. Dies führte dort zu mehr Einkommen, zu mehr Konsum, zu mehr Nachfrage

BIS pro Kopf
Land                         
  1981                 2022/33
Deutschland          11.100              46.264
China                       288                 12.254
Indien                      276                  2.612
Quelle: Statista

Die Daten der vergangenen Jahrzehnte zeigen dies deutlich. Vor vierzig Jahren lagen China und Indien, die jetzt bevölkerungsreichsten Länder der Erde etwa gleichauf. Deutschland erwirtschaftet pro Kopf den vierzigfache Wirtschaftsleistung. Jetzt ist dies weniger als vier Mal so viel als in China und zu Indien hat sich der Abstand verringert. Deutlich wird jedoch das China viel mehr aufholte, einige hundert Millionen Menschen aus der Armut holte und Indien weitaus weniger wuchs. Etwas provokativ interpretierte der Asienkenner Frank Sieren diese Daten, wenn man davon ausgeht, dass sich das bessere politische System durchsetzt, müsse man davon ausgehen, dass China für die Mehrheit der Staaten das bessere politische Modell biete.

Dies führt zu einem weiteren Punkt, der den Welthandel enorm veränderte. Der vormals führende Westen ist jetzt nicht nur bei der Anzahl der Bevölkerung in der Minderzahl, sondern auch der Anteil der nicht-westlichen Länder am globalen BSP nimmt stark zu.

Durch die Bevölkerungsentwicklung und nachholendes Wachstum verschiebt sich das globale Schwergewicht der Wirtschaft in die bisherigen Schwellenländer. Dies fällt zusammen mit der notwendigen Neuausrichtung in Richtung C02-freier Produktion und Kreislaufwirtschaft. Internationaler Handel wird dabei, auch um Lieferketten zu sichern, verstärkt durch Investitionen in den drei wichtigen Weltregionen Europa, Asien und Amerika ersetzt.

Regionen


Region Bevölkerung in Mio. Fertilitätsrate 2016
1950 2022 2050 2100
Asien
1.379,0 4.664,3 5.292,9 4.674,2 2,3
Afrika
227,5 1.360,7 2.485,1 3.924,4 4,5
Europa
549,7 746,2 703,0 586,5 1,5
Lateinamerika & Karibik
168,3 651,8 749,2 647,4 2,0
Nordamerika ohne Mexiko 162,1 374,0 421,4 448,0 1,8
Ozeanien
12,6 43,9 57,8 68,7 2,3
Welt
2.499,3 7.975,1 9.709,4 10.349,3 2,5
Quelle: Vereinten Nationen (UN): https://population.un.org/wpp/

Entkopplung von der Welt?

Das Bild der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen ist zunächst widersprüchlich. Einerseits verlangen Politik und Wirtschaftsverbände eine Entkoppelung von China, damit die Deutsche Wirtschaft nicht zu abhängig von einem Land ist und Lieferketten auch in Konfliktfällen sicher sind. Andererseits gibt es Rekordinvestitionen im Reich der Mitte. Doch sind dies zwei Seiten einer Medaille, in der die Unternehmen ihre Geschäfte in den verschiedenen Weltregionen robuster aufstellen möchten, indem Sie dort ihre Geschäfte unabhängiger von anderen Regionen ausrichten. Auch chinesische Unternehmen gehen diesen Weg, indem sie bevorzugt im Bereich Elektromobilität oder Umwelttechnik verstärkt in Asien, Lateinamerika oder Europa eigenständige Produktionskosten aufbauen. Dennoch spielt der klassische Handel immer noch eine große Rolle. Durch die Wachstumsraten in den Schwellenländern dürfte sich das Welthandelsvolumen weiter erhöhen. Auch wenn der prozentuale Anteil Deutschlands weiter zurückgeht, könnte das Außenhandelsvolumen Deutschlands wieder steigen, wenn wir die passenden Produkte anbieten und die passenden Waren, im Wettbewerb mit den neuen Wettbewerbern einführen. Bei den Importen könnten Unternehmen und Verbraucher von sinkenden Preisen profitieren.

Globale Nachhaltigkeit

Die neue globale Wirtschaftswelt steht zukünftig vor neuen dramatischen Herausforderungen durch die zunehmende Weltbevölkerung und ökologischen Grenzen des Wachstums. Im Jahr 2100 liegt nicht nur Indien und China bei der Einwohnerzahl vor den USA. Pakistan, Nigeria und die Demokratische Republik Kongo überholen laut den Prognosen ebenfalls die USA. Diese Länder müssen sich nicht nur entwickeln, um die Armutsfalle zu überwinden. Sie müssen dabei einen Entwicklungssprung hin zu einer nachhaltigen CO2-freien Wirtschaft hinbekommen. China ist dabei in Umwelt- und Zukunftstechniken gepaart mit Elektronik und KI in einigen Bereichen führend. Aber die deutsche Industrie, die deutsche Ingenieurskunst ist weiterhin gefragt und hat durchaus Marktchancen. Gefordert sind in den neuen Märkten jedoch bezahlbare, auf die jeweilige Situation angepasste Produkte.

Entwicklungs- und Schwellenländer holen gegenüber westlichen Industrieländern auf

In den westlichen Industrieländern, Nordamerika und Europa leben lediglich ca. 14 Prozent der Weltbevölkerung – mit weiter abnehmender Tendenz. Wirtschaftswachstum findet hauptsächlich in den Schwellenländern statt. Dies ist schon alleine daher notwendig, da globale Fragen wie Migration oder Welt-Klimapolitik nur bei einem ähnlichen Wohlstands- und Entwicklungsniveau aller Länder zu lösen sind.

Laut einer Prognose von Statista wird Indien im Jahr 2100 mit rund 1,53 Milliarden Einwohner:innen das bevölkerungsreichste Land der Welt sein. China wird hingegen bis zum Jahr 2100 nahezu halbieren auf rund 766,7 Millionen Bürger:innen .

Die zehn bevölkerungsreichsten Länder der Welt im Jahr 2021:

China: 1,43 Milliarden Einwohner:innen
Indien: 1,41 Milliarden Einwohner:innen
USA: 337 Millionen Einwohner:innen 1.
Indonesien: 273,75 Millionen Einwohner:innen 1.
Pakistan: 231,4 Millionen Einwohner:innen
Brasilien: 214,33 Millionen Einwohner:innen
Nigeria: 213,4 Millionen Einwohner:innen
Bangladesch: 169,36 Millionen Einwohner:innen
Russland: 145,1 Millionen Einwohner:innen
Mexiko: 126,71 Millionen Einwohner:innen
Übersicht zusammengestellt von Bing KI

Langfristige Strategie mit kurzfristigen Anpassungsmöglichkeiten

„Was Unternehmen vor allem brauchen, ist eine belastbare Auskunft darüber, wie sich die Welt verändert. Außerdem sollten sie sich von klassischen, linearen Planungsprozessen verabschieden und lieber auf agile Planungsprozesse setzen. Das heißt, lieber nicht die nächsten fünf Jahre durchplanen, sondern nur das kommende Jahr. Eine wichtige Erkenntnis ist auch: Es gibt keinen Zustand, an dem alles gut ist. Wir werden nie an einen Punkt kommen, an dem wir uns zurücklehnen können, weil alles geschafft ist,“ so Harry Gatterer, Geschäftsführer des Zukunftsinstituts in MARKETS International, dem Magazin der gtai. Dem könnte hinzugefügt werden: Gleichzeitig sollte eine langfristige Vision entwickelt werden. Langfristige Pläne, die jedoch kurzfristig flexibel auf aktuelle Herausforderung reagieren können. Das ist eines der Erfolgsrezepte des asiatischen Wirtschaftsaufschwungs Auch für den Handel kann dies umgesetzt werden. Die Krisen der jüngsten Zeit im Beschaffungswesen sollten als Chance gesehen werden, die Prozesse in den Unternehmen in diese Richtung zu optimieren. Die deutsche und europäische Politik muss dafür auch Voraussetzungen schaffen.

Überarbeitete Fassung von:

Traditioneller Außenhandel vor dem Ende?
Außenwirtschaftliche Praxis, Juni 2024
https://shop.reguvis.de/online/aussenwirtschaftliche-praxis-aw-prax-online/

Links:

Ifo-Institut
ifo Schnelldienst 1/2024: Außenwirtschaft im Wandel

Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA)
BGA zur EU-Lieferketten-Richtlinie

GTAI
Ist China bald nicht mehr Deutschlands größter Handelspartner?

AHK Greater China:
Business Confidence Survey

Deutsche Bundesbank
Wirtschaftliche Risiken für Deutschland aus der Verflechtung mit China

Institut der deutschen Wirtschaft (IW)
China auf dem Weg zur führenden Technologienation

GTAI
Markets International – GTAI


Text: ASIA MEDIA SERVICE



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