11. August 2025
Vor vielen Jahren hatte die Sinologische Fakultät der Hamburger Universität in Deutschland, ja in Europa den besten Ruf. Sie schien jedoch in einem kolonial verhafteten traditionellen Elfenbeinturm stecken geblieben zu sein. Der Elfenbeinturm war der unwirtliche Philosophenturm im Van-Nelle-Park, 7. Stockwerk.
Wie kamen wir dazu, dort Chinesisch zu lernen? Als Studenten hatten wir wenig Geld, aber waren reiselustig. Wir wollten mit der Transsibirischen Eisenbahn von Budapest nach Moskau fahren. Die Fahrkarte sollte umgerechnet nur zwölf Mark kosten. Ulf sagte, dass die Menschen in China kaum Englisch sprechen, wir sollen daher Chinesisch lernen. Das würde doch als Nebenfach zu meinen Wirtschaftsstudium gut passen. Er selbst gab jedoch nach wenigen Stunden seinen Chinesischkurs, den eine deutsche Dozentin hielt, auf.
Ich hatte eigentlich wenig Ahnung von China, war weder Maoist wie zuvor einige der jetzt bürgerlichen Universitätsdozenten, noch war ich dem traditionellen China verbunden. Es interessierte mich vielmehr, wie ein solch großes Land eine nachholende Modernisierung schaffen würde, wie es Hunderte Millionen Menschen aus der Armut befreien kann. China öffnete sich damals und schlug einen neuen Entwicklungsweg ein. Das war allenthalben in den Zeitungen zu lesen, in den Nachrichten zu hören.
Von den deutschen Professoren und Dozenten konnte ich in Hamburg kaum etwas lernen, was mich interessierte. Wirtschaft, gar Produktionsmethoden oder Alltag der Menschen, das war nicht ihr China. Eher die vielhundertfache Interpretation eines Tang-Gedichts oder kniffelige Auslegungen buddhistischer Schriften waren ihre Metiers. Nur der legendäre Prof. Stumpfeldt war eine interessante Ausnahme. Doch leider lehrte er die alte Sinologie, sodass ich bei ihm keine Kurse besuchte. Von den anderen deutschen Lehrkräften lernte ich lediglich, was Arroganz ist. Etwas Leben und spannende Inhalte brachten eher Lektoren von außen ein, wie der Vielschreiber Oskar Weggel vom Institut für Asienkunde, nach dem die Unterrichtsmethode "Weggeln" benannt wurde. wie geht das?
Ganz anders waren die chinesischen Lektoren, welcher die Sprachkurse leiteten. Nicht nur ich hatte mitbekommen, dass sich China öffnet. Ganze Heerscharen von karriereorientierten Studenten meinten damals, mit Chinesisch eine glänzende Karriere ansteuern zu können. So drängten sich im Seminarraum zum Beginn der ersten Unterrichtsstunde 70 oder 80 Studenten. Wie soll das funktionieren, fragte nicht nur ich mich.
Das funktioniere mit einer grandiosen Schau. Die Tür ging auf, und im Türrahmen blieb Chao Jung-lang stehen, Nachkomme einer berühmten Gelehrtenfamilie. Er hielt ein gelbes Buch lange und bedeutungsvoll in die Luft. So lange, bis es im überfüllten Lehrsaal muksmäuschenstill war. Nun holte er aus und warf es quer durch den Saal auf den Dozententisch, wo es treffsicher liegenblieb. Langsam und würdig ging er zum Tisch, hob das Buch wieder weit in die Luft, zeigte drauf und sagte nach einer Kunstpause mit ernster Miene:
Zhè shì yī běn shū
Dann schrieb er an die Tafel, die damals noch die Lehrsäle zierten:
这是一本书
Nun löste er das Rätsel, hielt das Lehrbuch, das er selbst verfasst hatte hoch, zeigte drauf und sagte:
"Das ist ein Buch"
Das war auch schon genug für die erste Doppelstunde, für Töne, Wörter, Zeichen, Grammatik.
这是一本书.
Die Sprache ist etwas Lebendiges, sie ist spannend. Bücher wirbeln durch die Luft. Vögel flatterten vom Fenstersims des Seminarraums ins Unterrichtsprogramm. Aus der alten Ledertasche von Chao kommet ein Apfel oder eine Puppe mit chinesischen Namen. Das gelbe Buch von Chao "Chinesisch für Deutsche" (Erstauflage 1976)"prägte jahrzehntelang den universitären Chinesisch-Unterricht in Deutschland.
Nach den beiden Semestern bei Chao konnten wir bei dem zweiten chinesischen Lektor Yu Chien Kuan lernen, chinesische Zeitschriften oder Texte aus aktuellen Büchern zu lesen. Kuan war mindestens ebenso eigen. Wir dachten zunächst, der spinnt. Doch spinnen tun wir. Theatralisch las er auf Chinesisch einen Text, heulte vor Hunger, da die armen Leute nichts zu essen hatten. Dann strahlend und voll Freude: Oh Wunder, es waren köstlichste Speisen im Überfluss da. Er fragte, was dies für eine Geschichte sei. Die Chinesen, bei denen dreht sich immer alles ums Essen, meinten wir. Nachdem er die Geschichte noch einmal vorgelesen und übersetzt hatte sagte er "Das war ein Märchen und heißt Tischlein deck dich". Er amüsierte sich köstlich über uns und fing an, ein chinesisches Lied zu singen. Wir sollten mitsingen.
Zai Na Yao Yuan De Di Fang - 在那遥远的地方
Wir sind doch nicht im Kindergarten, war unsere Reaktion. Doch leise brummelnd stimmten einige ein. Die Zeichen des Lieds meißelten sich aber in meine Erinnerung, und ich lernte eine unbeschreibliche kontinentübergreifende und völkerverbindende Sehnsucht kennen.
Kuan hatte in der Hamburger Milchstraße ein gastfreundliche Wohnung, in die er chinesische und deutsche Studenten einlud. Dort lernten Ulf und ich auch die ersten chinesischen Künstler kennen.
Geboren in Nordchina, aufgewachsen in Shanghai, ist Kuan während der Kulturrevolution über viele Umwege in Hamburg gelandet. Seine unglaubliche Lebensgesichte hat er in seinem Buch "Leben unter zwei Himmeln" geschildert.
Von den deutschen Dozenten waren gegenüber China Vorbehalte zu hören. Dort könne man nichts lernen, die Universitäten sein katastrophal schlecht. Doch Kuan sagte: Chinesisch kann man nur in China lernen. So organisierte er eine Reise über Hongkong nach Hangzhou, wo ein Sommerkurs an der Universität stattfinden sollte.
Ein Bericht dieser ersten Chinareise folgt,
Links
Yu Chien Kuan. Leben unter zwei Himmeln. Eine Lebensgeschichte zwischen Shanghai und Hamburg
1987 Studenten des Sinologischen Seminars der Universität Hamburg - Exkursion nach China und Sommeruniversität Hangzhou - Koordination und Durchführung Yu-Chien Kuan - Fotogalerie Link öffnen
web.archive.org. Prof. Stumpfelds Hamburger China-Notizen
Oskar Weggel. Die Modernisierung der Institutionen und des Rechtswesens in der Volksrepublik China
Die Städtepartnerschaftserklärung zwischen Hamburg und Shanghai wurde am 29. Mai 1986 vom damaligen Ersten Bürgermeister Hamburgs, Klaus von Dohnanyi, sowie dem damaligen Oberbürgermeister Shanghais (und späteren Staatspräsidenten der Volksrepublik China), Jiang Zemin, unterzeichnet Link öffnen
Nach 1968 - Hamburg schaut neu auf China
Mit der zögerlichen Öffnung Chinas Anfang der 70er-Jahre gab es mit dem zuvor abgeschotteten Land erste politische Kontakte. Klaus von Dohnanyi war dabei einer der Visionäre und Vorreiter einer langfristig und zum Wohle beider Seiten angelegten Partnerschaft.
1973.11.23 Die Zeit. Ein Schulfach heißt: Arbeit. Von seinem Besuch in China berichtet Bundeswissenschaftsminister Klaus von Dohnanyi Link öffnen
1981.07.04 Die Welt. Wie Hamburg neue Freunde gewinnt - Acht chinesische Fachleute arbeiten ein Jahr lang im Hafen Link öffnen
1983.08.22 Hamburger Abendblatt. Was einer Grünen in Rotchina auffiel - "Hamburg und Shanghai sollten enger zusammenarbeiten" - Zu diesem Schluß ist Thea Bock, Bürgerschaftsabgeordnete der Grün-Alternativen-Liste (GAL) Link öffnen
1985.02 Handelskammer Mitteilungen. Alter Partner im neuen Gewand. Hamburg kann der Volksrepublik China viel bieten Link öffnen
1985.03.11 Hamburger Abendblatt. Lu Kunfeng: Kunst ist zum Genießen da - Museum für Kunst und Gewerbe
1985.06.13 Die Welt. Freundschaftsvertrag mit der Hafenstadt Shanghai Link öffnen
1986.05.20 Hamburger Abendblatt. Zwei Hafenstädte wollen in China in Zukunft wirtschaftlich enger zusammenarbeiten Link öffnen
1986.05.21 Hamburger Abendblatt. Senat berät Partnerschaftsvertrag mit Shanghai - So rückt Hamburg näher an China
1986.07.14 Der Spiegel. „Für China die wichtigste Stadt Europas“ - Hamburgs neue Traumrolle - Ostasiens wirtschaftlicher Vorposten Link öffnen
1986.10.03 Hamburger Abendblatt. Das Reich der Mitte lud ein - und alle kamen
1986.10.18 Hamburger Abendblatt. Universität Hamburg - Erster Vertrag mit Hochschule in Peking Link öffnen
Hangzhou, wo die Sommeruniversität stattfand, ist die Hauptstadt der Provinz Zhejiang.
Seit 1986 pflegt Schleswig-Holstein eine Partnerschaft mit der chinesischen Provinz Zhejiang. Die beiden Regionen tauschen sich regelmäßig über Themen wie Wirtschaft, Handel, Wissenschaft und Technologie, Tourismus, Umwelt, Erneuerbare Energien, Bildung und neuerdings auch im Bereich der Digitalisierung aus.
ASIA MEDIA SERVICE, Dr. Thomas Kiefer / Ulf Ludzuweit
Foto: Hier erzähle ich einer Kindergartengruppe die Geschichte "Tischlein deck dich". Die Zuhörer lachen aber wohl mehr über mein hanebüchenes Chinesisch und weniger über das Märchen © Thomas Kiefer
Best AI Website Creator